Bürgerräte sind die Methode der Stunde für mehr Konsultation und Demokratie in unserer Gesellschaft. Ein Ersatz für klassische Formen der formellen und informellen Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturprojekten sind sie jedoch nicht.

Stellen Sie sich vor, Sie lesen morgens Zeitung und erfahren, dass in Kürze in Hörweite Ihres Grundstücks eine Eisenbahnstrecke neu gebaut werden soll, die zu allem Überfluss auch noch Ihren Lieblingsspazierweg durchschneiden wird. Das Planfeststellungsverfahren läuft, ein Beschluss wird in den nächsten Wochen erwartet. Schon bald sollen die ersten Baumaschinen anrücken. Sie allerdings hören heute zum ersten Mal davon.  Sofort geben sie nervös den Namen des Projekts in eine Suchmaschine ein. Auf der Webseite der Vorhabenträgerin finden Sie außer den Informationen, die sie schon aus dem Zeitungsartikel kennen, nur Dokumente der verschiedenen Sitzungen eines sogenannten Bürgerrats, welcher die Planungen für die neue Bahnstrecke in den vergangenen Jahren begleitet hat. Daneben prangt ein Foto, auf dem eine Vertreterin dieses Rats das finale Gutachten stolz der Vorhabenträgerin überreicht. Hinweise auf Infoveranstaltungen, Infomärkte oder Info-Touren, an denen Sie hätten teilnehmen können, finden Sie jedoch nicht. Was meinen Sie, würden Sie das Projekt befürworten?

Von Klimakonzept bis Rettung der Demokratie: Bürgerräte als Mittel der Wahl

Bürgerräte werden in den vergangenen Jahren immer häufiger eingesetzt. Ob der Klima-Bürgerrat der Stadt Stuttgart, der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ des Bundestags oder das von der Stadt München initiierte „Bürger*innengutachten fürs PaketPost-Areal“: An unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlicher Zielsetzung werden Bürgerräte eingesetzt, um (mehr oder weniger)[1] komplexe Themen zu bearbeiten. Die Erwartungen an die Räte sind allerdings hoch:  Sie sollen politische Blockaden lösen, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments endlich den Weg bereiten[2] oder gleich die gesamte moderne Demokratie aus ihren multiplen Krisen befreien. Nun gesellt sich immer häufiger eine weitere Anforderung dazu: als Methode der informellen Öffentlichkeitsbeteiligung sollen sie für Akzeptanz von Infrastrukturprojekten sorgen. Kann dies gelingen und wenn ja, wie?

Wir sind überzeugt: Bürgerräte sind ein innovatives und vielversprechendes Instrument, um die Planung von Infrastrukturprojekten zu verbessern und den Dialog mit der Öffentlichkeit wirksamer zu gestalten. Sie dürfen aber niemals das einzige Mittel der Öffentlichkeitsbeteiligung sein, sondern müssen anderen, breiter angelegten Maßnahmen wie Infoveranstaltungen und Themenwerkstätten ergänzend beistehen.

Der Auftrag an Bürgerräte: Politikberatung und Unterstützung bei der politischen Entscheidungsfindung

Bürgerräte sind mehrfach tagende Gremien oder Versammlungen von zufällig ausgewählten Menschen, die dazu dienen, Bürgerbeteiligung und demokratische Entscheidungsprozesse zu fördern. Durch eine inhaltliche, deliberative Auseinandersetzung mit einem vorab gewählten Thema sowie durch die Anhörung von Expertinnen und Experten sollen die Zufallsbürgerinnen und -bürger dazu befähigt werden, komplexe Fragen zu verstehen und zu beurteilen. Die meisten Bürgerräte, deren Wirken bekannt ist und öffentlich kommentiert wird, werden durch die Politik  ins Leben gerufen. Sie werden beispielsweise von Parlamenten eingesetzt und sollen sich mit politischen Fragestellungen des Obs auseinandersetzen: Beispielsweise ob eine Bahnstrecke für die Verkehrswende und für mehr Klimaschutz gebaut werden soll oder nicht. Die Räte erarbeiten dabei konsultative Empfehlungen, die sie in einem Endgutachten für demokratisch legitimierte Entscheidungsträgerinnen und -träger zusammenfassen. Diese sollen die Empfehlungen dann umsetzen oder unter Angaben von Gründen abändern beziehungsweise ganz fallen lassen.

Bürgerräte als Nachfolger der Planungszelle

Werden jedoch Bürgerräte als Form von früher und informeller Öffentlichkeitsbeteiligung in Infrastrukturprojekten eingesetzt geht es nicht länger um das Ob, sondern um das Wie: Wie wird eine Trasse geführt? Wie werden Anwohnerinnen und Anwohner einbezogen? Wie werden Ausgleichs- und Kompensationsmaßnahmen umgesetzt? Im Bereich der Stadt- und Verkehrsplanung sind Bürgerräte an und für sich nichts neues. Die in den 1970er Jahren von Soziologieprofessor Peter C. Dienel (Bergische Universität Wuppertal) entwickelte Methode der  „Planungszelle“ funktioniert auf eine ganz ähnliche Weise: Zwischen  25 und 100 Teilnehmende arbeiten gemeinsam an einer bestimmten Aufgabenstellung, befragen Expertinnen und Experten und geben am Ende ein Gutachten ab, welches von den fachlich Zuständigen geprüft und wenn möglich umgesetzt werden soll.

Eben doch kein Allheilmittel: Möglichkeiten und Grenzen von Bürgerräten

Um die Chancen und Grenzen beim Einsatz von Bürgerräten zu identifizieren, ist es wichtig zu verstehen, was sie können – und was nicht. Orientierung schaffen die Kriterien guter Öffentlichkeitsbeteiligung des Umweltbundesamts[3]. Drei Aspekte sind besonders interessant, um sowohl die Stärken als auch die Schwächen eines Bürgerrats zu verstehen.

  1. Gute Öffentlichkeitsbeteiligung bezieht unterschiedliche und kontroverse Stimmen ein. Organisierte und nicht-organisierte Gruppen müssen gleichermaßen einbezogen werden. Hier liegt die entscheidende Stärke der Bürgerräte, da durch das Zufallsprinzip bei der Auswahl der Teilnehmenden mit anschließender Gewichtung nach Metadaten, wie Alter, geschlechtliche Identität und Wohnort, die in klassischen Verfahren weniger vertretenen und leisen Stimmen eine Plattform bekommen.
  2. Beteiligung muss zugänglich für alle sein. Gute Öffentlichkeitsbeteiligung findet nicht im Hinterzimmer, sondern öffentlich sichtbar statt. Dies ist die größte Schwachstelle der Bürgerräte. Bereits vom Grundkonzept her sind die Räte nur für eine Gruppe von einem Dutzend bis einhundert Menschen zugänglich. Zwar können ihre Ergebnisse dokumentiert und transparent aufbereitet werden, ein Rest von Exklusivität bleibt dennoch bestehen.
  3. Gute Beteiligung muss früh und verbindlich im Prozess verankert sein. In puncto Verbindlichkeit ergibt sich bei Bürgerräten ein erhebliches Risikopotenzial. Um dieses zu minimieren, ist das Erwartungsmanagement mindestens ebenso wichtig wie die fehlerfreie Umsetzung eines Rats. Die Vorhabenträgerin darf nie den Eindruck entstehen lassen, das Gutachten des Bürgerrats zu ignorieren. Gleichzeitig muss den Teilnehmenden von Anfang an klar sein, dass höchst wahrscheinlich nicht alle Empfehlungen eins zu eins umgesetzt werden können. Misslingt dieses Erwartungsmanagement können die Räte schlimmstenfalls die Demokratie beschädigen, anstatt ihr zu helfen – dies gilt vor allem für diejenigen Bürgerräte, die von Kommunen und Parlamenten eingesetzt werden.

Eine große Chance für mehr Ernsthaftigkeit und Repräsentativität in der Beteiligung

Die Räte sind eine gute Methode, um die oft heterogene und nur punktuell organisierte Stakeholdergruppe der Anwohnenden sowie die Öffentlichkeit in den Beteiligungsprozess einzubeziehen. Meistens identifizieren Vorhabenträgerinnen und politische Entscheidungstragende fälschlicherweise den lautstarken Protest von Bürgerinitiativen mit der allgemeinen, öffentlichen Meinung.  Die Mehrheit der Öffentlichkeit ist allerdings in der Regel unentschieden beziehungsweise indifferent. An dieser Stelle setzen die Bürgerräte an. Die schweigende Mehrheit soll die Chance bekommen, sich mit dem Projekt ernsthaft auseinanderzusetzen, um gemeinsam mit der Vorhabenträgerin die bestmöglichen – und bestmöglich akzeptablen – Lösungen für die Umsetzung zu finden.

Mit Hilfe der Bürgerräte können zudem kritische Bürgerinitiativen und Interessensverbände besser in einen Gesamtkontext eingeordnet werden. Für eine Vorhabenträgerin haben die Bürgerräte hierbei primär einen Marktforschungscharakter: Sofern richtig zusammengestellt, repräsentieren die Räte einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Ihre Auseinandersetzung mit dem Projekt, ihre Kritik und ihre Lösungen bilden vielfältige Perspektiven ab und können mit Einschränkungen auf weite Teile der Gesellschaft übertragen werden.

Auch der beste Bürgerrat kann niemals ein Garant für Akzeptanz sein

So könnte der Eindruck entstehen, dass ein Bürgerrat in Zukunft ausreicht, um die Öffentlichkeit an Infrastrukturprojekten zu beteiligen und Akzeptanz für das Vorhaben zu schaffen – schließlich repräsentieren die Teilnehmenden idealerweise die Gesellschaft. Dieser Sichtweise folgend müsste ein durch einen Rat begleitetes und an dessen Empfehlungen angepasstes Projekt doch automatisch auch im Rest der Öffentlichkeit ohne weiteres auf Akzeptanz stoßen. Die Wahrheit sieht jedoch anders aus.

Eine verbesserte Planung durch einen Bürgerrat ist das eine, gute Kommunikation dieser Planung jedoch das andere. Deswegen haben sich erfolgreich eingesetzte Bürgerräte, wie der Rat zur Regional-Stadtbahn Neckar Alb[4], nicht nur mit dem Projekt selbst, sondern auch mit der Projektkommunikation beschäftigt. Hier gibt das Bürgergutachten Empfehlungen, wie mit der Öffentlichkeit im weiteren Projektverlauf kommuniziert werden soll. Sei es durch eine gut gepflegte Webseite, öffentliche Infoveranstaltungen, Infomärkte oder Themenwerkstätten: Um eine breite Projektakzeptanz zu sichern, muss jeder Bürgerin und jedem Bürger das Angebot unterbreitet worden sein, sich zu informieren und zu beteiligen.  Ein Bürgerat allein ermöglicht also noch lange keine Akzeptanz, auch wenn er noch so gut gemacht ist!

Wenn der Bürgerrat Erfolge bringt…

Kommen wir zurück zum anfangs geschilderten Szenario. In diesem wurde der worst-case eines Einsatzes der Methode Bürgerrat skizziert. Im besten Falle würde das Szenario hingegen so aussehen: Stellen Sie sich vor, Sie lesen morgens in der Zeitung einen Artikel über die neue Bahnstrecke, die bald in der Nähe Ihres Grundstücks gebaut werden soll. Sie nehmen dies zum Anlass, sich über Ihr Handy mal wieder auf der Onlineplattform einzuloggen, auf der Sie neben diesem Projekt auch noch alle weiteren Infrastrukturprojekte verfolgen können, die in Ihrem Umkreis geplant und durchgeführt werden. Auf der Projektseite der Neubautrasse ist alles vorhanden: Protokolle und Dokumentationen aller Sitzungen des begleitenden Bürgerrats, ein virtueller Infomarkt sowie eine Ankündigung, wann die nächsten Themenwerkstätten zur geplanten Bauphase stattfinden werden. Sie freuen sich insbesondere, dass der Bürgerrat in seinem Endgutachten das Thema Ausgleichs- und Kompensationsmaßnahmen so stark hervorgehoben hat. Schließlich haben Sie selber in einer Themenwerkstatt zahlreiche Hinweise und Ideen unterbreitet, wie ein Ausgleich für das von der Bahnstrecke durchschnittene Naherholungsgebiet mit Ihrem Spazierweg aussehen könnte. Auf der interaktiven Karte vergewissern Sie sich, dass für den Streckenabschnitt in Ihrer Nähe tatsächlich Lärmschutzmaßnahmen geplant wurden. Sie legen Ihr Handy beiseite und schauen zum Fenster hinaus. Natürlich, so denken Sie sich, wäre es Ihnen lieber gewesen, das Los hätte jemand anderen getroffen und man hätte sich für eine andere Streckenführung entschieden. Aber durch all das, was Sie in fünf Jahren Beteiligungsprozess gelernt haben, haben Sie keine Angst mehr vor dem Projekt. Die Arbeit des Bürgerrat hat ganz wesentlich dazu beigetragen.

[1] Zimmer, René (2023): Bürgerrat, den niemand braucht?, https://www.remember-wandel.de/blog/buergerrat-den-niemand-braucht (Zugriff am 22.11.23).

[2] Nanz, Patrizia & Leggewie, Claus (2018): Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung. Verlag Klaus Wagenbach (Berlin).

[3] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/377/dokumente/uba-va-handout.pdf (Zugriff am 22.11.23).

[4] https://www.regional-stadtbahn.de/b%C3%BCrgerrat (Zugriff am 23.11.2023).