Die Union hat ihr Wahlprogramm spät veröffentlicht: als letzte der aktuell im Bundestag vertretenen Parteien am 21. Juni. Der Titel verspricht „Stabilität und Erneuerung“. Dabei üben CDU und CSU einen Spagat zwischen „Weiter so“ und einer notwendigen Veränderung. Durch unkonkrete Formulierungen und Widersprüchlichkeiten bei der Finanzierbarkeit der Vorhaben bleiben viele Fragen unbeantwortet. Doch was auf den ersten Blick dilettantisch anmuten könnte, ist an Laschets Koalitionspräferenz und den ungewissen Wahlausgang angepasst.

Dem finalen Wahlprogramm sind etliche Papiere vorausgegangen: eine Ideensammlung der Vereinigungen und Bundesfachausschüsse der CDU, das Buch „Neustaat“ der MdBs Schön und Heilmann sowie der 10-Punkte-Plan von Laschet und Spahn. Entsprechend der Themen aus den umfassenden Vorarbeiten fielen auch die Schwerpunkte bei den Wahlversprechen aus: Steuersenkungen und Ablehnung neuer Steuern, Einhalten der Schuldenbremse, Förderung des Industriestandorts Deutschland, Stärkung des Klimaschutzes. Das Programm bleibt dabei in vielen Punkten vage. Konkrete Angaben, etwa zur Anhebung des Arbeitnehmerpauschalbetrags oder zur Begünstigung kleiner und mittlerer Einkommen bei der Einkommensteuer, fehlen. Auch in der Klimapolitik mangelt es an wichtigen Zielmarken: Eine bezifferte Staffelung des CO2-Preises, konkrete Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien sowie eine Zielzahl der Emissionssenkung im Bereich Industrie, Wohnen und Verkehr sucht man im Wahlprogramm der Union vergebens.

Außerdem wirft die christdemokratische Projektion der kommenden vier Jahre die Frage nach der Finanzierbarkeit auf. So verspricht die Union eine Anhebung des Kinderfreibetrags, die Abschaffung der EEG-Umlage und des Solidaritätszuschlags sowie eine Steuerbegrenzung auf 25 Prozent für Gewinne, die in Unternehmen verbleiben. Die Einnahmen aus dem Emissionshandel sollen „in vollem Umfang“ an BürgerInnen und Betriebe durch Stromverbilligung zurückfließen. Gleichzeitig lehnt die Union neue Steuern (keine Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder Erhöhung der Erbschaftssteuer) strikt ab. Von einer „Entfesselung der Wirtschaft“, von „Entlasten statt Belasten“ ist die Rede. Ein „Kassensturz“ bei den Sozialleistungen soll einen Teil der Ausgaben finanzieren.

FDP als Wunschpartner

Mit dem insgesamt wirtschaftsliberalen Programm, insbesondere in der Steuer- und Wirtschaftspolitik, positioniert sich die Laschet-Union klar auf traditioneller FDP-Linie und macht eins deutlich: Die FDP ist die Wunschkandidatin bei der Koalitionsbildung. Nicht nur inhaltlich, sondern auch personell passt eine solche Koalition gut ins Bild: Die schwarz-gelbe Koalition in NRW regiert trotz nur einer Stimme Mehrheit seit 2017 stabil. Laschet hatte sie 2017 gemeinsam mit Lindner ausgehandelt; beiden wird ein „Vertrauensverhältnis“ nachgesagt.

Ob CDU/CSU und FDP im September für eine schwarz-gelbe Koalition stark genug sind, ist fraglich. Den letzten Umfragen zufolge fehlen dafür zehn Prozentpunkte. Diese Situation hat die Union antizipiert und sich Türen für eine Dreierkoalition offengehalten, sowohl mit den Grünen als auch mit der SPD.

Grüne und SPD könnten programmatische Lücken füllen

Das Programm bietet viele Schnittstellen mit den Grünen: Bekennung zum 1,5-Grad-Ziel und zur Klimaneutralität bis 2045, Ausbau erneuerbarer Energien, Förderung von Energiespeicher- und Wasserstofftechnologien sowie der Kreislaufwirtschaft. Mit diesen klimaschutzpolitischen Programmpunkten, die gleichzeitig unkonkret sind, bleibt die Union anschlussfähig an die Grünen – auch mit der FDP. Nicht in die Nähe einer „Verbotspartei“ (Markus Söder über Bündnis 90‘/Die Grünen) zu rücken, ist dabei ein weiterer Vorteil dieser Strategie. Für den Fall einer Koalition mit den Grünen überlässt Laschet dem Partner den schmerzlichen Teil: konkrete Vorgaben zur Erreichung der Klimaziele.

Liest man das Wahlprogramm, finden sich auf den ersten Blick kaum Schnittmengen zu sozialdemokratischen Kernpositionen. Stattdessen: Kürzungen bei den Sozialleistungen, kaum Entlastungen für Geringverdienende und Steuergeschenke an die Wohlhabenden dieses Landes – für SPD-Generalsekretär Klingbeil „ein Programm der sozialen Kälte“. Auch für SPD wäre eine Neuauflage der GroKo nicht zwangsweise wünschenswert und könnte die Partei in neue Identifikationsprobleme stürzen. Die letzte Koalition mit der Union war bereits bei der sozialdemokratischen Parteibasis stark umstritten; die phasenweise einstelligen Umfragewerte der SPD legten die Empfehlung nahe, die Partei möge eine Auszeit von der Regierungsverantwortung nehmen.

Auf den zweiten Blick könnte das wirtschaftsliberale Programm der Union für die SPD jedoch auch eine Brücke in die Regierung sein. Sollte eine Zweierkoalition mit der FDP keine Mehrheit erreichen, sind die Sozialdemokraten aus Sicht der Union die vor den Grünen bevorzugten Koalitionspartner. Man kennt sich und hat die vergangenen acht Jahre gut zusammengearbeitet. Die Grünen hingegen sind die große Unbekannte und für Teile der Wirtschaft auch die unbequemere Variante. Insofern kann die Vernachlässigung der sozialen Dimension im Wahlprogramm auch als Handreichung für eine Koalition mit der SPD gesehen werden: Indem die Union Spielraum für sozialpolitische Erfolge eröffnet, ermöglicht sie der SPD, in einer Deutschlandkoalition das Gesicht zu wahren.

Schuldenbremse und „Schwarze Null“ – Zwangsläufig nur leere Versprechen?

Unabhängig von einer Koalition mit gelb, rot oder grün bleibt das Einhalten der gesetzlichen Schuldenbremse samt Rückkehr zur „Schwarzen Null“ eine Krux des Unionsprogramms. Die kostenintensiven Wahlversprechen der CDU/CSU sind ohne neue Schulden nur schwer zu verwirklichen. Abgesehen von der Finanzierbarkeit der Versprechen erschwert das Einhalten der Schuldenbremse auch die Koalitionsbildung. Bei einer Koalition mit den Grünen sind kostenintensive klimapolitische Maßnahmen und Förderungen unausweichlich. In einer Regierung mit der SPD unter der skizzierten Prämisse wird die Union sozialpolitische Konzessionen machen müssen. Die FDP wiederum will die Wirtschaft ankurbeln und nicht durch Abgaben belasten. Damit wird die Union die Schuldenbremse wohl kaum starr umsetzen können. Denkbar hingegen sind eine über mehrere Jahre gestaffelte Rückkehr zur „Schwarzen Null“ oder eine flexiblere Definition, die bestimmte sozialpolitische Ausgaben oder Investitionen in den Klimaschutz bei der Bilanz der Neuverschuldungen ausklammert. Denn auch dafür bietet das Wahlprogramm den nötigen Gestaltungsspielraum.