Zweieinhalb Monate nach der Bundestagswahl haben SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP ihren Koalitionsvertrag für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit unterzeichnet und eine neue Bundesregierung gebildet, die vergangene Woche vereidigt wurde.

Einige Beobachter zeigten sich zurecht überrascht, dass das Verkehrsministerium – von vielen bereits fest in der Hand der Grünen gesehen – nun doch von FDP-Generalsekretär Volker Wissing geführt wird. Gleichzeitig ist das Wirtschaftsressort, das man eher der FDP zugerechnet hätte, tatsächlich in einem Grünen Klimaschutz-Superministerium aufgegangen.

Dadurch wird die Erwartung von sowohl Bürgerinnen und Bürgern als auch BeobachterInnen an die neue Bundesregierung, dass alle Parteien in hohem Maße die Häuser mit ihren Kernanliegen besetzen, ein Stück weit von der Realität eingeholt. Denn so harmonisch sich Koalitionsgespräche auch darstellen lassen – am Ende bleiben es naturgemäß Verhandlungen, bei denen jede Partei versucht, auch die Wirkungsmacht der anderen zu kontrollieren.

Hierzulande hat schon immer besonders die Mobilitätspolitik polarisiert. Schon im Sondierungspapier zeichnete sich vermeintliche Einigkeit bei den strittigsten Themen der Koalitionäre ab. Dies beinhaltet u. a. die Ablehnung eines generellen Tempolimits und die Frage, welche Antriebstechnologien beim Klimaschutz im Verkehr eine Rolle spielen sollen. Obwohl die betreffenden Passagen im Koalitionsvertrag denen des Sondierungspapiers an entsprechenden Stellen gleichen, zeigt ein Blick in die Tiefe die hier begrabenen enormen Konfliktpotenziale.

(K)ein generelles Tempolimit

„Das Tempolimit konnten wir nicht durchsetzen“, musste Robert Habeck bei der Pressekonferenz vor zwei Monaten als Ergebnis der Ampel-Sondierungen eingestehen. Ein Blick in den Koalitionsvertrag zeigt einerseits zahlreiche Dopplungen, an denen deutlich wird, dass die Arbeitsgruppen parallel und stellenweise losgelöst von der Hauptverhandlungsgruppe gearbeitet haben. Andererseits wird auch deutlich, dass der Fall Tempolimit noch nicht abgeschlossen ist. So heißt es unter dem Punkt Verkehrsordnung, dass den Ländern und Kommunen durch Änderungen des Straßenverkehrsgesetzes und der Straßenverkehrsordnung mehr Entscheidungsspielraum gegeben werden soll, um Klima- und Umweltschutz zu berücksichtigen. Bisher waren die Straßenverkehrsregeln hauptsächlich Bundesangelegenheiten, die zwar mit Zustimmung des Bundesrates beschlossen werden, den Ländern aber lediglich beim Vollzug Kompetenzen einräumen . Mit Blick auf die neun Bundesländer, in denen die Grünen derzeit mitregieren, wäre es nicht überraschend, wenn die Grünen ihren Einfluss im Bundesrat und im Bundestag für einen Vorstoß einsetzten. Damit könnten den Ländern mehr Freiheiten zum Klima- und Umweltschutz – und damit zur Begrenzung der zulässigen Maximalgeschwindigkeit – eingeräumt werden. Ein generelles bundesweites Tempolimit ist dann zwar vom Tisch. Der Weg dorthin bietet aber noch zahlreiche Stationen, die nun bestritten werden können.

Der Kampf um die Antriebstechnologien

Unliebsam bei jeder Koalitionsverhandlung sind „Formelkompromisse“, bei denen jede der Parteien ihre Sicht der Dinge unterbringt, der eigentliche Konflikt aber ungelöst bleibt. Ein Paradebeispiel für den Formelkompromiss bleibt die Antwort der Koalitionäre auf die Frage, mit welchen Antriebstechnologien der Wandel zur Klimaneutralität im Straßenverkehr zu erreichen sein wird. Während sich die Grünen insbesondere für batteriebetriebene Elektromobilität im Pkw-Verkehr einsetzen, gilt die FDP als Verfechterin der Technologieoffenheit. Dahinter steht die Überzeugung, die Anwender sollten letztlich selbst entscheiden, mit welcher Antriebsform sie CO2-Emissionen vermeiden wollen. Damit verbunden ist die Frage: Werden potentiell CO2-neutrale E-Fuels auch berücksichtigt werden, wenn ab 2035 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zugelassen werden können?

Hier konnten sich letztlich sowohl Grüne als auch FDP durchsetzen, was im technologieoffenen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor seinen paradoxen Ausdruck findet: Auf der einen Seite sollen nicht nur die Wasserstoffregulatorik, sondern auch die Erneuerbare Energien Richtlinie und der Weg zur Klimaneutralität bis spätestens 2045 insgesamt technologieoffen ausgestaltet werden. Auf der anderen Seite machen die Koalitionsparteien geltend, die Technologie des Verbrennungsmotors hinter sich zu lassen und legen einen klaren Fokus auf die batteriebetriebene Elektromobilität im Pkw-Segment.

Diese Widersprüche schlagen sich im Detail nieder: demensprechend sollen „Fahrzeuge, die nachweisbar nur mit E-Fuels betankt werden können außerhalb des bestehenden Systems der Flottengrenzwerte“ auch nach 2035 noch zugelassen werden. Viele E-Fuels werden heutzutage so formuliert, dass sie mit handelsüblichen Kraftstoffen und Fahrzeugen kompatibel sind, um beim Klimaschutz im Fahrzeugbestand eingesetzt werden zu können. Fahrzeuge, die nachweislich ausschließlich mit E-Fuels betankt werden können, gibt es derzeit jedoch nicht.

Diese Zweideutigkeiten verlagern die klärenden Debatten in die Zukunft und werden in der kommenden Legislaturperiode zu vielschichtigen Diskussionen führen. Zum einen wird im Bundeskabinett und im nun sich monatlich konstituierenden Koalitionsausschuss über die Deutung der entsprechenden Passagen debattiert werden. Zum anderen kommen Bundesrat und Bundestag eine besondere Bedeutung zu: einerseits in ihren Kontrollfunktionen in der Europäischen Politik, wo viele dieser Punkte entschieden werden, andererseits in der nationalen Debatte in der Einwirkung auf die Regierung.

Die kommende Legislaturperiode wird daher mehr als die vergangene besonders von spannenden Debatten im Parlament beeinflusst werden. Waren sich SPD und Union zuletzt so vertraut, dass ihr Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode viele strittige Punkte bereits in die Tiefe regelte, lassen sich in der 20. Legislatur die Konflikte bereits erkennen. Während Union und SPD die offenen Punkte entsprechend ihrer Ausmaße zum Ende der Legislatur gegeneinander abhandelten, muss das neue Dreierbündnis schon 2022 zahlreiche grundsätzliche Konfliktpunkte auflösen. Denn die Begrenzung der Erderwärmung ist ein zentrales Anliegen aller Parteien und erfordert schnell weitreichende Maßnahmen.