Ost gegen West, jung gegen alt und nun auch Impfgegner gegen Geimpfte – schenkt man dem öffentlichen Stimmungsbild Glauben, zerreißt es unsere Gesellschaft in zwei Teile. Schuld am Dilemma sind wahlweise die sozialen Medien, die Hatespeech und Hetze befördern, oder eine Politik, die mit unklaren Botschaften eine Destabilisierung erst entstehen lassen hat. „Unsere Gesellschaft könnte nach der Pandemie gespaltener sein als jemals zuvor in den vergangenen 70 Jahren“, meint zumindest das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Aber wie viel Wahres steckt in dieser fatalen Diagnose? Und was bedeutet die Entwicklung für Kommunikationsverantwortliche unserer Zeit?

Bestandsanalyse: Scholz beschwichtigt

Die These einer gespalteten Gesellschaft, die zuletzt auch die AfD mit ihrer Plakataktion im Bundestag für ihre Zwecke zu nutzen versuchte, ist keine neue Erscheinung: Wir erinnern uns an die Europäische Flüchtlingskrise 2015, bei der aufgrund fremdenfeindlicher Übergriffe eine gesellschaftliche Spaltung beschworen wurde. Merkels Antwort damals: „Wir schaffen das!“ Ihr Krisenmanagement wird ihr rückblickend hoch angerechnet.

Heute stemmt sich Bundeskanzler Scholz gegen die Dramatik einer pandemischen Zerreißprobe. In seiner ersten Neujahrsansprache betonte er: „Manche beklagen, unsere Gesellschaft sei gespalten – ich möchte mit aller Klarheit sagen: Das Gegenteil ist richtig.“ Er will vor allem im Umgang mit der Hochwasserkatastrophe „riesige Solidarität“ und ein „neues Zusammenrücken und Unterhaken“ erkannt haben. Die sichtbaren Grabenkämpfe zu Corona-Maßnahmen und Impfpflicht seien das Werk einer „winzigen“ Minderheit. Er setzt damit auf Werte und Botschaften, die sich bereits im Wahlkampf und bei der Koalitionsbildung bewährt haben: Zusammenhalt, Solidarität und Respekt.

Die Mär der klaren Trennlinie

Aber hat er recht? Die Antwort lautet ja – und nein! Zunächst sollte mit der oft zitierten Hypothese aufgeräumt werden, Deutschland sei ein polarisiertes Land. Eine Trennung der Gesellschaft in zwei Gegenseiten gibt es nicht. Selbst bei den größten Streitthemen der Gesellschaft – Impfpflicht, gendergerechte Sprache oder Migration – sind sich Bürgerinnen und Bürger inhaltlich näher, als oftmals unterstellt.

Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sprachen sich Ende 2021 fast 70 Prozent der Befragten für eine verpflichtende Immunisierung aus. Nur 23 Prozent lehnten diese ab – noch weniger aus gesinnungspolitischen Motiven.

Und obwohl sich sowohl die Vermögensschere seit 2008 erheblich geöffnet hat und der demografische Wandel seine Effekte zeigt, lässt sich keine Spaltung nach sozialen Faktoren belegen. Interessanterweise sind laut Populismusbarometer der Bertelsmann Stiftung populistische Tendenzen sogar seit Jahren rückläufig.

Was wahr ist über die Spaltung

Warum geistert also das Narrativ um eine Spaltung durch Gesellschaft und Medien? Dahinter stecken vor allem folgende Entwicklungen:

  • Es gibt in der Tat (kleinere) gesellschaftliche Gruppen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, wie die Universität Münster kürzlich nachweisen konnte. Ihre Konflikte werden demzufolge zu gesamtgesellschaftlichen Debatten hochgekocht.
  • Die Pandemie gibt vielen Menschen ein Gefühl der Isolation. Das betrifft vor allem die Jüngsten und Ältesten unserer Gesellschaft – die einen leiden unter den sozialen Folgen eines veränderten Bildungsbetriebs, die anderen wurden vom Digitalisierungsschub zumeist benachteiligt. Eine digitale Kluft entsteht.
  • Der Ton in Diskursen wird in Teilen rauer. Hass und Hetze – das bestätigt sich in aktuellen Studien – haben auch 2021 weiter zugenommen. Das bekommen vor allem Politik- und Medienvertretende zu spüren, die im Umkehrschluss das Bild der Spaltung erneuern.
  • Soziale Medien begünstigen Skandalisierung und Emotionalisierung und fragmentieren zudem Nutzerinnen und Nutzer in ihre jeweils eigenen Blasen – einzelne Ansichten verstärken sich, Falschmeldungen können ungehindert verbreitet werden.

Eine klare Spaltung der Gesellschaft in zwei Pole gibt es damit nicht; wohl aber leise Mehrheiten und laute Minderheiten – und eine Tendenz der Feindseligkeit.

Gute Kommunikation überwindet Gräben

Die Bestandsanalyse bedeutet beileibe nicht, dass Unternehmen soziale Medien und digitale Formate meiden sollten. (Digitale) Kommunikation kann sowohl zu gesellschaftlicher Spaltung beitragen als auch dabei helfen, diese zu überwinden.

  • Kommunikation sollte Unsichtbares sichtbar machen. Gerade in Beteiligungsprozessen drängt sich häufig die laute Minderheit in den Vordergrund. Durch eine adäquate Formatauswahl und Moderation kann sichergestellt werden, dass das Radikale relativiert wird und konstruktive Stimmen zu Wort kommen.
  • Kommunikation sollte inklusiv sein. Unsere Erfahrung zeigt, dass ein Wechsel von Präsenz- auf Online-Veranstaltungen in der Regel dazu führt, dass der Kreis der Teilnehmenden in den Faktoren Alter und Geschlecht diverser aufgestellt ist. Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird in Zeiten der Pandemie selbstverständlicher. Gleichzeitig dürfen digital-aversen Gruppen keine Barrieren gebaut werden. „Hybriden Beteiligungsformaten gehört die Zukunft“, meinen daher auch die Kollegen Murat Künar und Felix Mohring.
  • Kommunikation sollte Gegenwind aushalten können. Kommunikationsverantwortliche, die ihr Unternehmen in den sozialen Medien vertreten, sollten die üblichen Fallstricke kennen. Verkürzt dargestellt, bedeutet das: Wer sich pointiert positioniert, erntet Widerspruch – wer die Zuspitzung meidet, nimmt mitunter Reichweitenverluste in Kauf.
  • Kommunikation sollte sich treu bleiben. Auch wenn der Eindruck entstehen kann, es gäbe nur zwei Meinungen, sollten sich Kommunikatorinnen und Kommunikatoren davon nicht verschrecken lassen. Dass lauter Widerspruch nicht bedeutet, die Mehrheit gegen sich zu haben, hat sich in der Vergangenheit immer wieder bewahrheitet. Wer dahin geht, wo es weh tut, ohne inhaltlich zurückzuweichen, nötigt Respekt ab und zeigt auch bei zähen Widersachern Wirkung – Michael Kretschmers erfolgreicher Wahlkampf in 2019 ist dafür das beste Beispiel.
  • Kommunikation sollte kein Brandbeschleuniger sein. „Gewinner“ sind solche Unternehmen, die die Vermehrung von radikalen und spalterischen Inhalten unterbinden; solche Kommunikatorinnen und Kommunikatoren, die den konstruktiven Austausch befördern. Der Satz „Don’t Feed The Troll“ ist fast so alt wie die Netzkultur selbst, aber immer noch von erstaunlicher Aktualität.